Unklarheiten und offene Fragen
Stellungnahme der Initiative „Filmerbe in Gefahr“ zum Welttag des Audiovisuellen Erbes am 27. Oktober 2018
23. Oktober 2018. – Die Digitalisierungsoffensive des Bundes, der Länder und der Filmwirtschaft startet Anfang Januar 2019; die Modalitäten und Regularien sind ab Dezember auf der Internetpräsenz der Filmförderungsanstalt einzusehen. Bedauerlicherweise wird diese filmpolitisch so bedeutsame Fördermaßnahme ohne öffentliche Diskussion vorbereitet. So ist unklar, ob für die Digitalisierungsmaßnahmen des kommenden Jahrzehnts ein zentrales Konzept des Kinematheksverbundes existiert oder zumindest vorgesehen ist. Es ist unklar, ob von den beteiligten Archiven ein Kriterienkatalog entwickelt wurde, der inhaltliche, technische, ökonomische oder kulturpolitische Prioritäten formuliert. Es ist unklar, wer Mittel beantragen kann und wer nach welchen Kriterien über die Mittelvergabe entscheidet. Schließlich ist auch unklar, ob der technische und organisatorische Prozess der Digitalisierung von einer fachwissenschaftlichen Debatte begleitet wird, in den z.B. Filmwissenschaftler, Historiker, Kuratoren und Filmvermittler ihre Positionen einbringen können.
Digitalisierung allein ist keine Lösung.
Mit der Schließung des letzten Filmkopierwerks beim Bundesarchiv zum Ende dieses Jahres endet innerhalb des Kinematheksverbunds die Sicherung des Filmerbes auf analogen Trägern. Dieser tiefgreifende Einschnitt erfolgt ohne eine fachöffentliche Diskussion und bevor der Kinematheksverbund eine Gesamtstrategie vorgelegt hat. Offensichtlich bestehen im Kinematheksverbund in dieser Frage unterschiedliche Auffassungen, die ein gemeinsames Vorgehen erschweren. Eine baldige Einigung muss unbedingt angestrebt werden, da das Fehlen eines gemeinsamen Konzepts mit hohen Risiken verbunden ist. Mit der Digitalisierung allein ist die Aufgabe einer dauerhaften Bewahrung der Filme keineswegs gelöst. Die Filme der analogen Ära müssen auch als Ausgangsmaterial für die sich jeweils rasant verändernden digitalen Standards aufbewahrt werden, da bei der schnellen Überalterung von Dateiformaten das Risiko des Datenverlusts besteht. Desgleichen muss es ein kulturpolitisches Anliegen sein, auch in Zukunft das Kinoerlebnis mit analogen Filmkopien zu ermöglichen. Zu fordern ist daher nach wie vor die Einrichtung eines dauerhaften und mit angemessenen Mitteln ausgestatteten Fonds für eine zweigleisige konservatorische Sicherungsstrategie, die sowohl die Herstellung langzeitstabiler analoger Sicherungskopien als auch die Herstellung und Archivierung digitaler Kopien erlaubt.
Die deutsche Filmgeschichte – bald unsichtbar?
Die Digitalisierung des deutschen Filmerbes innerhalb des Kinematheksverbundes steht weiterhin am Anfang. Zwar gibt es bei der Bereitstellung von DCPs für die Kinoauswertung Fortschritte. Die Deutsche Kinemathek, die Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung, das Deutsche Filminstitut–DIF, das Filmmuseum München, das Filmmuseum Potsdam und das Bundesarchiv verleihen mit Stand Oktober 2018 rund 925 DCPs von Filmen des Zeitraums 1895 bis 2004: Ein Plus von rund 135 im Vergleich zum Jahresbeginn. Allerdings: Nicht alle Archive melden ihre DCPs zeitnah an das Filmportal als die zentrale Internet-Plattform zum deutschen Film, andere nur verzögert. Auch veröffentlichen die Archive keine Zahlen darüber, wie häufig ihre Digitalisate verliehen werden. Trotz eines Kinopreises des Kinematheksverbunds für die Vermittlung deutscher und internationaler Filmgeschichte ist die deutsche Filmgeschichte in den Kinos rückläufig. Die Zahl der Programmkinos und kommunalen Spielstätten, die sich fast allein den Zeugnissen unserer Filmgeschichte widmen, ist in den letzten Jahren zurückgegangen. Mehr noch: Auch ihre Programmgestaltung hat sich zu Ungunsten filmgeschichtlicher Werke verändert. Wenn die deutsche Filmproduktion des 20. Jahrhunderts auf der Kinoleinwand nicht unsichtbar werden und die für die Vorführung hergestellten DCPs nicht ungenutzt in den Archiven liegenbleiben sollen, muss die Leinwandpräsenz der deutschen Filmgeschichte besonders gefördert werden. Die Einrichtung von Archivkinos, die ausschließlich die deutsche Filmgeschichte im Repertoire pflegen, ist daher nicht nur wünschenswert, sondern ein kulturpolitisches Desiderat.
Online-Präsenz: ein frommer Wunsch.
Die Zahl der online gestellten Filme wächst nur langsam. Die Teilnehmer des Kinematheksverbunds haben im Oktober 2018 an die 4.000 Filme online gestellt: Ein Plus von 270 Filmen. Das Bundesarchiv geht mit 3.482 Titeln voran, zumeist Wochenschauen und regierungsoffizielle Filme der BRD. Das ist, im internationalen Maßstab gesehen, erstaunlich kümmerlich – bedenkt man, dass das Internet einen schnelleren und vielfältigeren Zugang auch zur deutschen Filmgeschichte ermöglicht. Um die sich hier eröffnenden Chancen wirkungsvoll zu nutzen, bedarf es einer fachgerechten, dem Medium Internet adäquaten Strategie und struktureller Überlegungen. Die Website filmportal.de, das zentrale Schaufenster unserer Filmkultur im Netz, ist unterfinanziert und als Web-Portal vergleichsweise noch unentwickelt. Von einer Erschließung unserer Filmgeschichte nach wissenschaftlichen Standards kann noch in keinem Internet-Portal die Rede sein. Kuratierte und kommentierte Zusammenstellungen fehlen; vermisst wird auch ein zentraler Einstiegspunkt, um die auf verschiedenen Plattformen liegenden Titel schnell und zuverlässig zu finden. Die Deutsche Digitale Bibliothek wäre hierfür prädestiniert, wird aber kaum mit Filmen bestückt. Fazit: Was die Online-Präsenz der digitalisierten Filme betrifft, bedarf es einer wesentlich stärkeren Unterstützung – auch von politischer Seite. Das betrifft auch Fragen des Urheberrechts. Wissenschaftliche Recherche, Datenpflege und technische Umsetzung müssen finanziell und personell besser ausgestattet werden.
Unser Filmerbe: graue Vergangenheit?
Laut Filmportal.de liegen aktuell 4.857 Filme aus dem Zeitraum 1895 bis 2004 auf DVD bzw. Blu-ray vor; die meisten stammen aus der Nachkriegszeit. 46 Titel sind aus dem Kaiserreich, 169 aus der Weimarer Republik und rund 230 aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dass die Zahl der Produktionen ebenso wie die der archivierten Filme im Lauf der über hundertjährigen Filmgeschichte exponentiell gewachsen ist, liegt gewissermaßen in der Natur der Sache. Dennoch spiegeln die genannten Zahlen die realen Proportionen nicht wider – weder im Hinblick auf die in den einzelnen Epochenabschnitten tatsächlich produzierten Filme noch in Berücksichtigung des in den Archiven vorhandenen und betreuten Bestands. Sie stärken vielmehr den Verdacht, dass sich unser Filmerbe aus der Sicht der Verwertungsindustrie, aber auch der Archivare und Kuratoren mit dem wachsenden zeitlichen Abstand immer mehr in eine diffuse „graue Vergangenheit“ verflüchtigt.
Die Digitalisierung des Filmerbes ohne einen verbesserten Zugang – sei es als DCP für eine Kinovorführung, sei es als online abrufbares Video oder als Veröffentlichung auf DVD und Blu-ray – verfehlt eines ihrer wichtigsten Ziele: die größere Teilhabe an der Filmgeschichte.
Jeanpaul Goergen, Klaus Kreimeier
Die ausführliche Auswertung zum Stand der Digitalisierung kann hier eingesehen werden
Permalink: filmerbe.org/ref/?300,380